Albrecht Ritschl (Wirtschaftshistoriker)
Albrecht Ritschl (* 1959 in München[1]) ist ein deutscher Wirtschaftshistoriker.
Leben
Ritschl, ein Enkel des Hamburger Finanzwissenschaftlers Hans Ritschl, wurde nach einem Studium der Volkswirtschaftslehre 1987 an der Universität München promoviert.[2] Gefördert insbesondere aus Mitteln des Leibniz-Preises für Knut Borchardt, habilitierte er sich dort 1998 über das Wechselverhältnis zwischen Deutschlands Binnenkonjunktur und dem Zugang zu Auslandskrediten. Von 1994 bis 2007 hatte er Professuren an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona (Assistant Prof. 1994–1996, Associate Prof. 1997–1999), der Universität Zürich (1999–2001) und der Humboldt-Universität zu Berlin (2001–2007) inne, bevor er 2007 an die London School of Economics and Political Science berufen wurde.
Ritschl ist Mitglied (seit 2005) des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Er war Sprecher (2011–2016) der Unabhängigen Geschichtskommission dieses Ministeriums[3]. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte leitet er das Geschichtsprojekt der Deutschen Bundesbank, dessen vorläufige Ergebnisse im Jahr 2024 vorgestellt wurden.[4]
Thesen
Ritschl griff an mehreren Stellen in langjährige Debatten zur jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte ein. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem:
- Der wirtschaftliche Zusammenbruch der Weimarer Republik. Ritschl argumentiert, Deutschland sei 1929/1930 in eine Zahlungsbilanzkrise geraten, ausgelöst durch die Priorisierung der Reparationen gegenüber den seit 1924 aufgelaufenen kommerziellen Auslandsschulden im Young-Plan.[5] In dieser Lage sei die Deflationspolitik Heinrich Brünings als Austeritätspolitik zur Wiederherstellung von Exportüberschüssen alternativlos gewesen, wollte man eine einseitige Streichung der Schulden und Reparationen vermeiden, wie sie von den extremen Kreisen am rechten und linken Rand des politischen Spektrums gefordert wurde.[6]
- Die Beschäftigungspolitik des Dritten Reichs. Ritschl argumentiert, der Aufschwung im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise habe bereits mit der Streichung der Reparationen 1932 eingesetzt und sei nicht ohne Weiteres der Konjunkturpolitik der Nationalsozialisten zuzuschreiben. Die schnelle Rückkehr zur Vollbeschäftigung sei in Teilen eine Folge der Niedriglohnpolitik Brünings gewesen, welche das Dritte Reich bruchlos fortgesetzt habe. Der Bau der Reichsautobahnen hingegen habe in großem Umfang erst 1936 begonnen, als Deutschland praktisch bereits zur Vollbeschäftigung zurückgefunden habe.[7]
- Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Einklang mit der zeithistorischen Forschung betont Ritschl, die soziale Marktwirtschaft sei keine Erfindung Ludwig Erhards gewesen. Wesentliche liberale Elemente wie die Anti-Kartellgesetzgebung seien auf Druck der West-Alliierten, insbesondere der Vereinigten Staaten, zustande gekommen. Wichtig war die Rolle Erhards beim Abbau der Bewirtschaftung und der Bekämpfung dirigistischer Strömungen in der Wirtschaftspolitik.[8] Dennoch hatten zahlreiche korporatistische Elemente Bestand, die als Beschränkungen der Gewerbefreiheit unter Hjalmar Schacht in den 1930er Jahren eingeführt wurden und mit nur geringen Veränderungen als sogenannte Ausnahmebereiche im deutschen Wettbewerbsrecht fortlebten.[9][10]
- Marshallplan. Ritschl betont die Bedeutung des Marshallplans, nicht so sehr als eines Aufbauprogramms für die westdeutsche Wirtschaft als vielmehr eines umfassenden Gesamtkonzepts zur Rekonstruktion der wirtschaftlichen Arbeitsteilung in Westeuropa. Dazu gehörte insbesondere die vorläufige Blockierung der deutschen Auslandsschulden durch Erstrangigkeit der Marshallplanhilfen vor allen Altschulden, die Europäische Zahlungsunion (EZU) als geschützter Freihandelszone mit festen Wechselkursen unter Einbeziehung der zunächst nicht kreditwürdigen Bundesrepublik sowie die indirekte Kontrolle der Marshallplanverwaltung über die westdeutsche Fiskal- und Geldpolitik bis 1952.[11]
- Konjunkturzyklen im Kaiserreich. Mit Methoden der empirischen Konjunkturforschung bestätigt Ritschl die Existenz der Gründerkrise (einer scharfen Rezession in den 1870er Jahren), die von anderen Wirtschaftshistorikern in Abrede gestellt worden war.[12]
Medienpräsenz
Ritschl meldet sich mit Beiträgen zu historischen Themen und aktuellen Tagesfragen zu Wort, so zur griechischen Schuldenkrise und mit einem kritischen Beitrag über die Rolle deutscher Volkswirte bei der Gründung und Förderung der AfD.[13]
Schriften (Auswahl)
- Prices and Production. Elements of a System-Theoretic Perspective. Physica-Verlag, Heidelberg 1989, ISBN 3-7908-0429-0.
- Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre. Akademie-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-05-003650-8.
- (Hrsg.): Preußen im Kaiserreich. Akademie-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-05-003699-0.
- Hat das Dritte Reich wirklich eine ordentliche Beschäftigungspolitik betrieben? In: Neue Ergebnisse zum NS-Aufschwung (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. 2003/I), ISBN 3-05-003860-8 (PDF ( vom 26. März 2007 im Internet Archive)).
- Mit Thomas Welskopp und Katja Girschik (Hrsg.): Der Migros-Kosmos. Zur Geschichte eines aussergewöhnlichen Schweizer Unternehmens. Hier und Jetzt, Baden 2003, ISBN 3-906419-64-9.
- (Hrsg.): Das Reichswirtschaftsministerium in der NS-Zeit. Wirtschaftsordnung und Verbrechenskomplex (= Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990. Bd. 2). De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2017, ISBN 978-3-11-046281-4.
Weblinks
- Literatur von und über Albrecht Ritschl im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Albrecht Ritschl ( vom 19. August 2006 im Internet Archive) auf der Website der Humboldt-Universität
- Albrecht Ritschl auf der Website der London School of Economics and Political Science
- Im Gespräch: Albrecht Ritschl, auf FAZ.net, 24. Oktober 2008
- Deutschland ist der größte Schuldensünder des 20. Jahrhunderts, auf Spiegel.de, 21. Juni 2011
- Das Klagelied der Zauberlehrlinge. Euro-skeptische Volkswirte gründeten einst die AfD., auf FAZ.net, 23. Januar 2025
Einzelnachweise
- ↑ Vademekum der Geschichtswissenschaften. Ausgabe 10.2012/2013. Steiner, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-515-10079-3, S. 538.
- ↑ Albrecht Ritschl im Mathematics Genealogy Project (englisch) .
- ↑ Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990. Abschlussbericht der Unabhängigen Geschichtskommission beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. 2016. Abgerufen am 20. Mai 2020.
- ↑ Von der Reichsbank zur Bundesbank. Personen, Generationen und Konzepte zwischen Tradition, Kontinuität und Neubeginn. Abgerufen am 20. Mai 2025.
- ↑ The German Transfer Problem, 1920–33. A Sovereign-debt Perspective. Abgerufen am 20. Mai 2025.
- ↑ Knut Borchardts Interpretation der Weimarer Wirtschaft. Zur Geschichte und Wirkung einer wirtschaftsgeschichtlichen Kontroverse (PDF; 137 kB), 2001.
- ↑ Hat das Dritte Reich wirklich eine ordentliche Beschäftigungspolitik betrieben? ( vom 26. März 2007 im Internet Archive), 2002.
- ↑ Albrecht Ritschl: Soziale Marktwirtschaft in der Praxis. In: Werner Abelshauser (Hrsg.): Das Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft. Der deutsche Weg der Wirtschaftspolitik (= Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990, Bd. 4). De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-046281-4, S. 265–368.
- ↑ Von der Krise zur Moderne? Zu den langfristigen Wirkungen der NS-Wirtschaftspolitik ( vom 26. März 2007 im Internet Archive), 2003.
- ↑ Der späte Fluch des Dritten Reichs. Pfadabhängigkeiten in der Entstehung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung. Abgerufen am 20. Mai 2025.
- ↑ Helge Berger, Albrecht Ritschl: Germany and the Political Economy of the Marshall Plan, 1947–52. A Re-Revisionist View. Abgerufen am 20. Mai 2025.
- ↑ Business Cycles and Stock Market Comovement in Germany before World War I. Evidence from Spectral Analysis (PDF; 573 kB), 2005.
- ↑ Das Klagelied der Zauberlehrlinge. Abgerufen am 20. Mai 2025.