Anne-Marie Durand-Wever

Anne-Marie Katharina Ulrike Fanny Elisabeth Durand-Wever[1], geb. Wever (* 30. Oktober 1889 in Paris; † 14. September 1970 in Overath-Heiligenhaus), war eine deutsche Gynäkologin und Mitbegründerin von Pro Familia.
Leben und Wirken
Anne-Marie Wever wurde als Tochter des deutschen Diplomaten Walther Wever und dessen Frau Anne-Marie, geb. von Harbou, in der Deutschen Botschaft in Paris geboren. Bedingt durch die diplomatischen Einsätze ihres Vaters wuchs Anne-Marie Wever in Bulgarien, Rumänien, Brasilien und den USA auf. Ihren Schulabschluss machte die junge Frau, die bis zum 10. Lebensjahr nur Privatunterricht hatte, 1907 in Chicago. Dort studierte sie anschließend 8 Semester Chemie und Physik. 1910 erhielt sie ihren Bachelor of Science. Es folgte von 1910 bis 1915 ein Medizinstudium in Marburg, Straßburg und München. 1915 legte sie ihr Staatsexamen ab und promovierte 1917 mit dem Thema Papilläres Fibrom des Septum urethro-vaginale. Beitrag zur Kenntnis der Vaginalgeschwülste.[2] Danach war sie als Assistenzärztin unter anderem an der Münchner Universitäts-Frauen-Klinik tätig.
Im Dezember 1916 heiratete Anne-Marie Wever den deutschen Architekten Wilhelm Durand. 1917 und 1924 kamen Sohn Ernst-August und Tochter Anne-Marie in München zur Welt.[3]
Ab 1920 war Durand-Wever aktiv in deutschen Frauenvereinen und gründete die Landesgruppe Bayern des deutschen Ärztinnenbundes, deren Vorsitz sie während des Ersten Weltkrieges innehatte.[4] Auch im 1924 dann deutschlandweit gegründeten Bund Deutscher Ärztinnen (BDÄ) war sie aktiv.[2]
1927 eröffnete sie in Berlin-Schöneberg ihre eigene Praxis als Frauenärztin, gründete eine „Vertrauenstelle für Verlobte und Eheleute“ und setzte sich für eine frühzeitige Aufklärung von Mädchen ein. Sie initiierte sich zu dieser Zeit für die Abschaffung des § 218 Strafgesetzbuch.[5]
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten praktizierte Durand-Wever weiter als Frauenärztin und setzte auch ihre Beratungstätigkeit fort.[5] Sie wurde aufgrund konträrer Ansichten zu Sozialhygiene und Aufklärung aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und musste alle sozialpolitischen Ehrenämter aufgeben. Mehrere ihrer Bücher zu Themen wie sexuelle Aufklärung, Verhütung und Geburtenkontrolle wurden 1938 auf der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums geführt.[6][7]
Unmittelbar nach Kriegsende arbeitete sie in der gynäkologischen Notambulanz einer Luftschutzrettungsstelle. Sie nahm zahlreiche Abtreibungen und Behandlungen gegen Geschlechtskrankheiten nach den Massenvergewaltigungen durch die sowjetischen Besetzer vor. In ihren Tagebüchern zeichnete sie auf, dass ihre eigene Tochter ebenfalls betroffen war.[5]
Durand-Wever engagierte sich nach dem Krieg ehrenamtlich und parteilos im Frauenausschuss in Berlin und leitete dabei die Kommission für das Gesundheitswesen.[5] Von 1947 bis April 1948 war sie Mitbegründerin und erste Bundesvorsitzende des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands (DFD).[8] Gemeinsam mit den anderen Protagonistinnen des Demokratischen Frauenbundes gilt sie aufgrund ihres Wirkens in dessen frauenbewegter Gründerinnenzeit als eine der „Mütter der Gleichberechtigung in der DDR“, obwohl sie in West-Berlin wohnte.[9] Doch binnen kurzem wurde dieser Aufbruch von der SED abgebrochen und „der Frauenbund inhaltlich, politisch und organisatorisch auf die SED ausgerichtet“.[9] Durand-Wever musste, angeblich aus gesundheitlichen Gründen, vom Vorsitz des DFD zurücktreten. Eigentlich war sie aber eine Gegnerin der Abkehr von der Überparteilichkeit des DFD.[5]
In den 1950er Jahren praktizierte Durand-Wever als Ärztin in eigener Praxis in der Ansbacher Straße 3 (Berlin-Schöneberg) und war assoziierte Herausgeberin der in Bombay (Indien) erscheinenden, englischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschrift International Journal of Sexology (1947–1955) für Deutschland.[10] In Kassel war sie 1952 Mitbegründerin und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung, Pro Familia, zudem war sie Mitarbeiterin von deren internationaler Dachorganisation IPPF.[11] Später zog sie nach West-Deutschland.
Anne-Marie Durand-Wever starb am 14. September 1970 in Overath-Heiligenhaus in der Nähe von Köln im Haus ihres Sohnes.
Sexualreformerin
Durand-Wever setzte sich beruflich und politisch, in Wort und Tat für Familienplanung ein. In einer wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft zur Geburtenregelung, die u. a. mit Max Hodann, Hans Lehfeldt, Hans Harmsen, Walter Stoeckel und Alfred Grotjahn besetzt war, vertrat sie die Positionen der Ärztinnen. In den 1920er Jahren lernte sie Margret Sanger kennen, die 1927 vom BDÄ nach Berlin eingeladen worden war und aufsehenerregende Vorträge zur Geburtenkontrolle hielt. Es entwickelte sich eine dauerhafte persönliche Freundschaft zwischen beiden Frauen.[2]
In der Weimarer Republik gab es eine hohe Zahl an Abtreibungen. Deshalb versuchte ein Teil der Ärzteschaft, dem durch Aufklärung und die Verbreitung von Verhütungsmitteln entgegenzuwirken. Auch die Printmedien widmeten sich, in teils populären Werken, verstärkt dem Thema Familienplanung. In privater und öffentlicher Trägerschaft entstanden vor allem in den Städten viele Ehe- und Sexualberatungsstellen, allein 40 Einrichtungen davon in Berlin. Die Sexualberatungsstellen wurden vielfach privat betrieben. Die im Jahr 1926 nach einem Erlass des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt gegründeten Eheberatungsstellen richteten sich vor allem an Paare, die vor einer Ehe standen. Die Stellen führten eine Beratung mit eugenischem Schwerpunkt durch, um kranken Nachwuchs zu verhindern. Es zeigte sich jedoch, dass auch der Beratungsbedarf verheirateter Paare enorm groß war. Deshalb entstand eine dritte Art von überwiegend privaten Beratungsstellen, die nicht nur gesundheitliche und sexuelle, sondern auch juristische und wirtschaftliche Hilfe anboten.[2]
Ab 1928 hielt Durand-Wever in einer eigenen Vertrauensstelle für Verlobte und Eheleute in der Goethestraße 23 in Berlin-Charlottenburg eine von ihrer Praxis unabhängige Sprechstunde zu verschiedenen Themen durch. Sie empfahl Paaren auch, sich ein Tauglichkeitszeugnis für beide Partner ausstellen zu lassen, um gesunden Nachwuchs sicherzustellen. Durand-Wever sah hier eine Verantwortung der Paare nicht nur füreinander, sondern auch gegenüber dem Staat. Ihr Studienort München und ihr Lebensmittelpunkt Berlin waren Anfang des Jahrhunderts von Ideen der Rassenhygiene und Volksgesundheit geprägt, wovon Durand-Wever nicht unbeeinflusst blieb.[2]
Schriften
- Die gesunde Frau wird Mutter. Safari-Verlag, Berlin, um 1930
- Die Verhütung der Schwangerschaft. Antäus-Verlag, Hamburg, 1931
- Die reife Frau: Verlauf und Erleichterung der Wechseljahre. Safari-Verlag, Berlin, 1937
- Normale und krankhafte Vorgänge im Frauenkörper. Volk und Wissen Verlag, 1946
- Bewusste Mutterschaft durch Geburtenregelung. Greifenverlag, Rudolstadt, 1948
Literatur
- Ruth-Esther Geiger, Sigrid Weigel: Sind das noch Damen? Vom gelehrten Frauenzimmer-Journal zum feministischen Journalismus. Frauenbuchverlag, München, 1981, ISBN 3-921040-96-5, S. 207.
- Siegfried Scholze, Hans-Jürgen Arendt (Hrsg.): Zur Rolle der Frau in der Geschichte der DDR. Eine Chronik. Vom antifaschistischen-demokratischen Neuaufbau bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft (1945 bis 1981). Verlag für die Frau, Leipzig, 1987.
- Kristine von Soden: Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik 1919-1933. Edition Hentrich, Berlin, 1988, ISBN 3-926175-09-5, 10, 30, 114, 134, 199, 209, 210.
- Christine Eckelmann: Ärztinnen in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus. Eine Untersuchung über den Bund Deutscher Ärztinnen. WFT, Wermelskirchen, 1992, ISBN 3-929095-00-9, S. 95.
- Eva Brinkschulte (Hrsg.): Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland, Edition Hentrich, Berlin, 1994, ISBN 3-894682-01-9, S. 140f.
- Atina Grossmann: Reforming Sex.The German Movement for Birth Control & Abortion Reform 1920 - 1950, Oxford University Press, New York, Oxford, ISBN 0-19-512124-4, S. 40, 41, 50, 57, 81, 159, 181, 190, 193, 196, 199, 210, 211.
- Renate Genth, Reingard Jäkl, Rita Pawlowski, Ingrid Schmidt-Harzbach, Irene Stoehr: Frauenpolitik und politisches Wirken von Frauen im Berlin der Nachkriegszeit 1945-1949. Trafo, Berlin, 1996, ISBN 3-89626-109-6, S. 51, 65, 75, 78, 86, 88–90, 93–95, 100, 102, 103, 186, 202, 211, 223, 229, 232, 238, 240, 264–266, 278, 364, 366, 367, 371.
- Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900-1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1996, ISBN 3-525356-75-7.
- Grit Bühler: Mythos Gleichberechtigung in der DDR: Politische Partizipation von Frauen am Beispiel des Demokratischen Frauenbunds Deutschland. Reihe: Campus Forschung, Campus, Frankfurt a. M., 1997, ISBN 3-593358-32-8.
- Atina Grossmann: Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform. 1920-1950. Oxford University Press, Oxford, 1997, ISBN 0-195121-24-4.
- Paul Ciupke, Karin Derichs-Kunstmann (Hrsg.): Zwischen Emanzipation und „besonderer Kulturaufgabe der Frau“. Frauenbildung in der Geschichte der Erwachsenenbildung. Klartext, Essen, 2001, ISBN 3-899744-56-X.
- Bärbel Maul: Akademikerinnen in der Nachkriegszeit. Ein Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Campus, Frankfurt a. M., 2002, ISBN 3-593371-31-6.
- Gerd-Rüdiger Stephan, Andreas Herbst, Christine Krauss, Daniel Küchenmeister, Detlef Nakath (Hrsg.): Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch. Karl Dietz Verlag, Berlin, 2002, ISBN 3-320-01988-0, S. 505, 525, 528, 922, 923.
- Gunilla-Friederike Budde: Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975, Reihe: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 162, Vanden-hoeck & Ruprecht, Göttingen, 2003, ISBN 3-525-35143-7, 43–45.
- Kurzbiografie zu: Durand-Wever, Anne-Marie. In: Wer war wer in der DDR? 5. Ausgabe. Band 1. Ch. Links, Berlin 2010, ISBN 978-3-86153-561-4.
- Grit Bühler: Eigenmächtig, frauenbewegt, ausgebremst. Der Demokratische Frauenbund Deutschlands und seine Gründerinnen (1945–1949), Diss., Frankfurt/New York (Campus) 2022, mit Abbildungen, ISBN 978-3-593-51602-8, 31, 56f., 98, 102f., 108, 113, 158, 177, 181f. 189, 196, 223–226, 231–234, 242, 244, 248, 260, 262, 266, 268, 274, 279, 298, 307f., 313, 325, 329–335, 343, 355, 371, 407f., 452f., 456–458, 475.
- Vera-Maria Giehler: Das Paar im Fokus. Eheberatung in Westdeutschland 1945-1965, Reihe: Family Values and Social Change, Band 7, De Gruyter, Berlin, 2023, ISSN 2196-680X, S. 94.
- Miriam Gebhardt: Die kurze Stunde der Frauen. Zwischen Aufbruch und Ernüchterung in der Nachkriegszeit. Herder, Freiburg im Breisgau, 2024, ISBN 978-3-451-39938-1.
- Diana Franke: Die Frage der Rezeption rassenhygienischer Programmatik in der bürgerlichen Frauenbewegung. Dargestellt am Beispiel ausgewählter Vertreterinnen. o. O, o. J.,[Diplomarbeit].
Weblinks
- Literatur von und über Anne-Marie Durand-Wever im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- WDR: Stichtag: 14. September 2005 – Vor 35 Jahren: Anne-Marie Durand-Wever stirbt: Für eine selbstbestimmte Sexualität
Einzelnachweise
- ↑ "D". In: Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. 11 Nachträge / Personenregister. De Gruyter Saur, Berlin / Boston 2008, ISBN 978-3-598-25030-9, S. 271.
- ↑ a b c d e Monika von Oertzen: "Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf." Die Ärztin und Sozialreformerin Anne-Marie Durand-Wever (1889-1970). In: Eva Brinkschulte (Hrsg.): Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland. Edition Hentrich, Berlin 1994, S. 140 ff.
- ↑ Markus Schnöpf, Oliver Pohl: Annemarie Durand-Wever, geb. Wever. In: Dokumentation: Ärztinnen im Kaiserreich. Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité, Berlin, abgerufen am 14. September 2020.
- ↑ Munziger: Anne-Marie Durand-Wever im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar)
- ↑ a b c d e Grit Bühler: Eigenmächtig, frauenbewegt, ausgebremst. Der Demokratische Frauenbund Deutschlands und seine Gründerinnen (1945–1949). Campus, Frankfurt/New York 2022, S. 456–458.
- ↑ Liste der verbannten Bücher: Durand-Wever, Anne-Marie: Verhütung der Schwangerschaft. In: Hauptstadtportal des Landes Berlin. Abgerufen am 14. September 2020.
- ↑ Cornelius Ryan: The Last Battle, S. 30. Simon & Schuster, 1995
- ↑ Durand-Wever, Anne-Marie. In: bundesstiftung-aufarbeitung.de. Oktober 2009, abgerufen am 14. September 2020.
- ↑ a b Grit Bühler: (Die) Mütter der Gleichberechtigung in der DDR. Die frauenbewegte Gründerinnenzeit des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) 1945–1949. In: Bundeszentrale für Politische Bildung: Deutschland Archiv, 7. März 2024 online, abgerufen am 30. Oktober 2024.
- ↑ Vgl. Liste der „associate editors“, in: International Journal of Sexology (Jg. 7), Nr. 1 (August 1953), Titel-Rückseite.
- ↑ Antonius Lux (Hrsg.): Große Frauen der Weltgeschichte. Tausend Biographien in Wort und Bild. Sebastian Lux Verlag, München 1963, S. 139.