Orsanmichele

Chiesa di Orsanmichele
Or San Michele
Außenansicht

Außenansicht

Daten
Ort Florenz
Baumeister Francesco und Simone Talenti, Neri di Fioravante und Benci di Cione u. a.
Baujahr 1337–1420
Höhe 40 m
Grundfläche 32,4 × 22,1 m ≈ 716 m²
Koordinaten 43° 46′ 14,7″ N, 11° 15′ 18,6″ O
Besonderheiten
Multifunktionales Gebäude, Skulpturenprogramm der Fassade, Marientabernakel

Orsanmichele (eigentlich: Or San Michele, ursprünglicher Name San Michele in Orto) ist ein kommunales Gebäude und eine Kirche in Florenz des Erzbistums Florenz.Ref? Der dreigeschossige Quader nimmt den Straßenblock zwischen der Via dei Calzaiuoli, Via dell’ Arte della Lana, Via dei Lamberti und Via Orsanmichele ein. Das Erdgeschoss des einst auch als städtischer Getreidemarkt und Kornspeicher genutzten Gebäudes beherbergt ein Oratorium, das der Verehrung eines als wundertätig verehrten Madonnenbildes dient. In den darüberliegenden Geschossen befindet sich heute das Museo di Orsanmichele.[1]

Blick vom Palazzo Vecchio: Orsanmichele (links) an der Via dei Calzaiuoli auf halbem Weg zur Kathedrale

Geschichte

Der Überlieferung nach stand an dieser Stelle ursprünglich ein Frauenkloster mit Gemüsegarten und einer kleinen, dem Erzengel Michael geweihten Kirche aus der Mitte des 8. Jahrhunderts, genannt San Michele in Orto („Sankt Michael im Garten“), wobei es dafür keine Belege gibt. 1290 errichtete anstelle der Kirche Arnolfo di Cambio, Meister der Dombauhütte, eine Loggia als überdachten Getreidemarkt, in der auch ein als wundertätig verehrtes Madonnenbildnis aus der Kirche unterkam. Nachdem der Bau 1304 durch ein Feuer zerstört worden war, beschloss der Stadtrat 1336 den Bau eines „repräsentativen Palazzo“, es sollte „eine Kirche in Form eines (über die maßen prächtigen) Palastes entstehen“, in dem sich religiöse und praktische Funktionen als Getreidebörse und kommunaler Kornspeicher vereinen sollten und sich „die Herrlichkeit der Stadt an ihren Künsten und Kunstwerken zeige“.[2] Bis 1350 wurde durch die Dombauhütte im kommunalen Auftrag eine größere Loggia erbaut, später dann von Francesco Talenti, Neri di Fioravante und Benci di Cione (ab 1349), mit zwei weiteren, niedriger werdenden Geschossen versehen, für die Getreidebörse und als Versammlungssaal der Zünfte und für einen Getreidespeicher darüber. 1361 wurde schließlich der Getreidemarkt verlegt. Die ebenerdigen Arkaden rundum wurden ab 1367 zunächst von Simone Talenti (dem Sohn Francescos) mit feingliedrigem Maßwerk versehen und mit Mauerwerk geschlossen. Fast alle folgenden Bildhauer hielten sich an Talentis Modell, deren Ausführung anhand der Köpfe im Maßwerk verschiedenen Händen zugeordnet werden können. Angefangen wurde mit den südöstlichen Bögen, die das Marientabernakel flankieren. Zuletzt entstanden in den Bögen der Westseite zwei Portale sowie das Maßwerk nach Entwürfen Lorenzo Ghibertis.[3] Um 1420 war die Loggia endgültig geschlossen.

Der auf einer Grundfläche von 32,4 × 22,1 Metern zu einer Höhe von 40 Metern aufstrebenden Bau mit drei einheitlichen Stockwerken, der profane wie religiöse Aufgaben in sich vereinte, war weder mit einem Zinnenkranz bewehrt wie der Palazzo della Signoria, noch mit einem Geschlechterturm versehen wie private Palazzi, oder von einem Campanile flankiert wie die Kathedrale. Auf halbem Weg zwischen den beiden Zentren religiöser und weltlicher Macht, vermittelte das Zunfthaus auch symbolisch. Die wirtschaftliche Prosperität der Stadt wurde durch zivile Ordnung und religiösen Beistand gewährleistet und unvorhersehbare Ernteausfälle konnten durch den kommunalen Getreidespeicher aufgefangen werden.

Zunftnischen

Zwischen den geschlossenen Spitzbögen schmücken vierzehn Nischen mit überlebensgroßen Statuen der Zunftheiligen die vier Außenseiten des Gebäudes. Auf Anweisung der Stadt wurden die Figuren und ihre jeweilige (bis auf eine Ausnahme) gotische Tabernakelarchitektur durch die einzelnen Florentiner Gilden nur zögerlich zwischen 1399 und 1425 in Auftrag gegeben; die vier danach entstandenen Skulpturen ersetzten ältere. Alle Statuen sind heute zum Schutz vor Witterung durch Kopien ersetzt und befinden sich bis auf wenige Ausnahmen im Museo di Orsanmichele im ersten Geschoss. Zu ihnen zählt die erste nachantike überlebensgroße Bronzestatue, ein Johannes der Täufer, den Lorenzo Ghiberti zwischen 1413 und 1416 für die Arte di Calimala, der Händlerzunft, schuf. Ghiberti goss auch für die Zunft der Geldwechsler (Arte del Cambio) ihren Heiligen Matthäus in Bronze (1419–22), der mit 2,70 Meter noch einmal 15 Zentimeter größer ist als die Täuferfigur.

Die marmorne Statuengruppe der Quattro Santi Coronati (1409–17) bestellte die Arte dei Maestri di Pietra e Legname, die Zunft der Bildhauer und Zimmerleute, bei Nanni di Banco. Die Nische mit der 1415–17 von Donatello für die Arte dei Corazzai e Spadai (Rüstungs- und Schwertschmiedezunft) geschaffenen Marmorstatue des hl. Georg und dem berühmten Flachrelief mit dem Drachenkampf des Heiligen in der Predella darunter wird heute im Bargello aufbewahrt. Die vergoldete Bronzefigur des hl. Ludwig von Toulouse, 1423–1425 von Donatello für die Parte Guelfa angefertigt, wurde in den 1460er Jahren, als die papsttreuen Guelfen ihre Macht verloren hatten, aus ihrer Nische entfernt und an die Franziskaner-Kirche von Santa Croce übergeben. Sie stand dort eine Zeit lang in einer für sie zu kleinen Fassadennische und befindet sich heute im Museum der Kirche. In die einzige, nach klassischem Vorbild von Donatello gestaltete Nische des Zünftehauses,[4] die das Handelsgericht (Mercanzia) nun für sich beanspruchte, wurde eine Bronzegruppe mit Christus und dem ungläubigen Thomas bei Andrea del Verrocchio bestellt, der hier zwei Figuren so zu komponieren hatte, dass sie in einer nicht für sie gemachten Nische unterzubringen waren (1467–83). Trotzdem die Gruppe keinen fixen Betrachterstandpunkt mehr hat und der Thomas außerhalb der Nische steht, ist sie nicht vollrund ausgeführt.

Von Lorenzo Ghiberti stammt außerdem der hl. Stefan (1427–1429), von Nanni di Banco der hl. Philippus (1410–1412) und der hl. Eligius (1417–1421). Donatello und Filippo Brunelleschi wird von Teilen der kunstwissenschaftlichen Forschung die Marmorstatue des hl. Petrus (1408–1413) zugeschrieben. Weitere Statuen sind von Niccolò di Pietro Lamberti (hl. Jacobus, 1410–1422), Baccio da Montelupo (hl. Johannes Evangelist, 1515) und von Giambologna, der die letzte Nische mit einem hl. Lukas füllte (1597–1602). Die sogenannte Madonna della Rosa auf der Eingangsseite war eine der ersten, für die Fassade von Orsanmichele geschaffenen Figuren (um 1399) und wird Piero di Giovanni Tedesco zugeschrieben; von zwei weiteren, die von Ghibertis Stefan und dem Johannes Giambolognas ersetzt wurden, ist die Identität ihrer Bildhauer und ihr Verbleib unbekannt.

Über einigen der Nischen sind Tondi mit den Wappen der Zünfte angebracht. Die in dominant blau und weiß glasierten Terrakottareliefs sind typische Arbeiten der Familie della Robbia, die überall in Florenz und darüber hinaus zu finden sind.

Inneres

Innenansicht des ebenerdigen Kirchenraums
Tabernakel Orcagnas (1352–1359) mit Bernardo Daddis trohnender Gottesmutter (1347)

Im Oratorium im Erdgeschoss des Gebäudes befindet sich das 1352–1359 zur Präsentation eines als wundertätig verehrten Madonnenbildes errichtete Tabernakel. Entworfen und ausgeführt wurde diese extrem aufwändig gestaltete gotische Kleinarchitektur von dem Florentiner Künstler Andrea Orcagna, der auf der Rückseite im Relief mit der Grablegung und Himmelfahrt Mariens das Werk auch signiert hat. Das Tafelbild der thronenden Gottesmutter führte 1347 der Maler Bernardo Daddi aus; es ersetzte die Maestà, die 1304 beim Brand zerstört wurde.

Im Joch links des Tabernakels steht auf dem Annenaltar eine marmorne Gruppe der Anna selbdritt, mit einer lesenden Maria, dem segnenden Christuskind auf dem Schoß und der neben ihrer Tochter sitzenden heiligen Anna, die um 1526 von Francesco da Sangallo geschaffen wurde.

Die Fensterlünetten zeigen Szenen aus dem Leben Marias und zur Wundertätigkeit der Maestà. Seit Januar 2024 ist das Museum in den oberen Stockwerken nach umfänglicher Restaurierung der Öffentlichkeit wieder zugänglich.[5] Das Museo di Orsanmichele beherbergt auf der ersten Etage 12 der 14 originalen Skulpturen, die seit einem Entschluss des Opificio delle Pietre Dure 1983 nach und nach restauriert und in den Außennischen durch Kopien ersetzt wurden.[6] Das obere Stockwerk zeigt die originalen kleinen Figuren, die außen auf den Fialen in den Bögen standen.

Siehe auch

Literatur

  • Maria Teresa Bartoli: Designing Orsanmichele: The Rediscovered Rule. In: Orsanmichele and the History and Preservation of the Civic Monument. Symposium Papers LIII (= Studies in the History of Art. Band 76). National Gallery of Art, Washington 2012, S. 35–52, JSTOR:42622570 (englisch).
  • Giorgio Bonsanti: The Orsanmichele Project. In: Orsanmichele and the History and Preservation of the Civic Monument. Symposium Papers LIII (= Studies in the History of Art. Band 76). National Gallery of Art, Washington 2012, S. 301–314, JSTOR:42622585 (englisch).
  • Wolfgang Braunfels: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana. 3. Auflage. Gebrüder Mann, Berlin 1966 (Erstausgabe: 1953).
  • Paola Grifoni, Francesca Nannelli: Le statue dei santi protettori delle Arti fiorentine e il Museo di Orsanmichele (= Quaderni del Servizio Educativo. 14). Edizioni Polistampa, Florenz 2006, ISBN 88-596-0045-6 (italienisch).
  • Gert Kreytenberg: Or San Michele und die Florentiner Architektur um 1300. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz. Band 27, Nr. 2, 1983, S. 171–192, JSTOR:27653107.
  • Gert Kreytenberg: The Limestone Tracery in the Arches of the Original Grain Loggia of Orsanmichele in Florence. In: Orsanmichele and the History and Preservation of the Civic Monument. Symposium Papers LIII (= Studies in the History of Art. Band 76). National Gallery of Art, Washington 2012, S. 111–124, JSTOR:42622570 (englisch).

Weiterführende Literatur

  • Brendan Cassidy: The Assumption of the Virgin on the Tabernacle of Orsanmichele. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. Band 51, 1988, S. 174–180, JSTOR:751270 (englisch). (Geht der Bedeutung der Himmelfahrt Mariens für Orsanmichele und für Florenz auf den Grund.)
  • Marie D'Aguanno Ito: Orsanmichele – The Florentine Grain Market: Trade and Worship in the Later Middle Ages. Dissertation. Catholic University of America, Washington 2014, JSTOR:38761012 (englisch). (Konzentriert sich ausführlich auf den wirtschaftlichen Aspekt des Getreidemarktes und die Aktivitäten der Bruderschaft von Orsanmichele.)
  • Gert Kreytenberg: Orcagna’s Tabernacle in Orsanmichele, Florence. Harry N. Abrams, New York 1994, ISBN 0-8109-3675-5 (englisch).
  • Johannes Nathan: Neue Literatur zu Orsanmichele in Florenz. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte. Band 62, Nr. 4, 1999, S. 541–570, JSTOR:1482906. (Ausführliche Kritik zu Zervas 1996 und einem Band von Herbert Beck, Maraike Bückling und Edgar Lein (Hg.): Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio. Hinrich, Frankfurt/Main 1996. Der Inhalt der kaum erschwinglichen Bücher wird hier eingehend dargestellt.)
  • Walter und Elisabeth Paatz: Or San Michele. In: Die Kirchen von Florenz: Ein kunstgeschichtliches Handbuch, Bd. IV: M-P. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1952, S. 480–558. Übersetzung ins Englische und Transkription des deutschen Textes auf der Projektseite Florence as It Was der Washington and Lee University, Lexington, Virginia. (Standardwerk zu Florentiner Kirchen)
  • Carl Brandon Strehlke (Hrsg.): Orsanmichele and the History and Preservation of the Civic Monument (= Studies in the History of Art. Band 76). National Gallery of Art, Washington 2012 (englisch). (Sammelband zweier Symposien in Florenz und Washington, die zum Abschluß des Restaurierungsprogramms stattfanden, dieses begründen und beschreiben, und den Stand der Forschung zu Orsanmichele spiegeln.)
  • Diane Finiello Zervas: Orsanmichele a Firenze/Orsanmichele Florence, 2 Bände (= Mirabilia Italiae, Band 5). Modena 1996 (italienisch/englisch). (Das Standardwerk zu Orsanmichele.)
  • Diane Finiello Zervas: Orsanmichele: Documenti 1336–1452/Documents 1336–1452 Istituto di Studi Rinascimentali, Ferrara, Strumenti, Modena 1996 (italienisch/englisch). (Versammelt alle bekannten zeitgenössischen Quellen zu Orsanmichele.)
Commons: Orsanmichele – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. www.turismo.intoscana.it Official Tourism Site of Tuscany. Aufgerufen am 17. Mai 2012.
  2. Stadtratsbeschluss zitiert nach Braunfels, der die Gleichwertigkeit beider Aufgaben in der Formulierung betont, beide dienten dem Wohl der Stadt. Braunfels 1953, S. 211 f.
  3. 1410 entworfen, 1414–20 ausgeführt. Siehe Kreytenberg 2012, zusammengefasst in einer Grafik aus S. 116.
  4. „Es ist mehr die muthwillige Seite der Frührenaissance, welche mit ihrem von Rom geholten Reichthum noch nicht Haus zu halten weiss,“ schreibt Jacob Burckhardt in seinem Cicerone. Jacob Burckhardt: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Schweighauser'sche, Basel 1855, Die Florentiner, S. 233 (archive.org).
  5. Kirche und Museum Orsanmichele auf der offiziellen Webseite für die Toskana.
  6. Siehe hierzu Bonsanti 2012.